Von guten Romananfängen – oder wie man die Lesenden bei der Stange hält
Für alle Schreiberlinge, Schreibinteressenten und Menschen, die sich einfach gerne mit guten Büchern befassen, bespreche ich heute mal ein paar Buchanfänge. In diesem Beitrag behandle ich vier Romane aus dem Fantasy-Genre; über erste Zeilen von Büchern aus anderen Genres schreibe ich ganz bald auch eine kleine Analyse.
Was können uns Romananfänge lehren? Zum einen, wie man die Lesenden bei der Stange hält 😉 Und zum anderen, wie viele bzw. wie wenige Informationen auf den ersten ein bis zwei Seiten untergebracht werden sollten, um weder zu unter- noch zu überfordern. Die ausgewählten Beispiele zeigen auch alle wunderbar die jeweils eigene Erzählstimme der Protagonist*innen bzw. die der Geschichte. (Unbezahlte Werbung)
Der Anfang von Peter V. Bretts Das Lied der Dunkelheit:
"Das große Horn dröhnte.
Arlen hielt in seiner Arbeit inne, hob den Kopf und blickte auf den zart lavendelfarbenen Morgenhimmel. Nebelschwaden hinge noch in der Luft und brachten einen feuchten, beißenden Geruch mit sich, der dem Jungen nur allzu vertraut war. Eine dumpfe Furcht breitete sich in seinen Eingeweiden aus, während er regungslos in der morgendlichen Stille stand und angespannt wartete, noch voller Hoffnung, er habe sich den Klang des Horns nur eingebildet. Arlen war elf Jahre alt.
Nach einer Pause erscholl das Horn noch zweimal rasch hintereinander. Ein langer Ton gefolgt von zwei kurzen Stößen, das bedeutete Süden und Osten. Die Holzfällerhütten, der Weiler in der Nähe des Waldes. Sein Vater hatte Freunde dort. Hinter Arlen ging die Haustür auf, und er wusste, dass seine Mutter mit vor dem Mund zusammengeschlagenen Händen hinausspähte.
Arlen kehrte an seine Arbeit zurück; man brauchte ihm nicht zu sagen, dass er sich sputen musste. Manche Aufgaben ließen sich ein, zwei Tage aufschieben, aber das Vieh musste gefüttert und die Kühe obendrein gemolken werden. Er ließ die Tiere in den Ställen und stopfte die Raufen mit Heu voll. Hastig füllte er die Schweinetröge und hetzte dann los, um einen hölzernen Melkeimer zu holen. Seine Mutter hockte bereits unter der ersten Kuh und bearbeitete geschickt deren Euter. Arlen schnappte sich den zweiten Melkschemel und passte sich dem Rhythmus der Mutter an; das Geräusch der auf das Holz prasselnden Milch glich einem getrommelten Trauermarsch.
Als sie sich anschickten, die beiden nächsten Kühe in der Reihe zu melken, sah Arlen seinen Vater, der dabei war, ihr kräftigstes Pferd, eine fünf Jahre alte Fuchsstute namens Missy, vor den Karren zu spannen. Mit grimmiger Miene ging er seinen Verrichtungen nach.
Was würden sie dieses Mal vorfinden?"(Brett, Peter V.: Das Lied der Dunkelheit. 12. Auflage der deutschen Erstausgabe 06/2009. München: Heyne, S. 11-12.)
Worum es in dem Buch geht:
beck-shop: das lied der dunkelheit
Peter V. Brett zeigt uns zu Beginn seines Romans ein
Ereignis, das nicht zum ersten Mal in der Welt seines Protagonisten geschieht.
Dafür verwendet er die Reaktion der Mutter, die jedoch nicht gezeigt wird,
indem Arlen sie beobachtet, sondern indem gesagt wird, er wisse, wie ihre
Reaktion ausfällt −
was wiegesagt auf ein Ereignis hindeutet, das schon
mindestens einmal stattgefunden hat. Für uns Leser*innen bedeutet das: In
dieser Welt passiert seit einiger Zeit Schreckliches, das die Menschen mit
Furcht erfüllt (nicht nur Arlen als Kind, sondern auch die Erwachsenen, die in
dieser Szene von seinen Eltern vertreten werden).
Der erste Absatz bietet zu dem Schreckensszenario, das von der Leserschaft
erwartet wird, auch die passende Stimmungsbeschreibung: Nebel und beißender
Geruch, das Horn in der Stille und der "Trauermarsch" der tropfenden Milch.
Weiterhin zeichnet dieser Romananfang ein Bild von Arlens Charakter. Sein
Geschlecht und sein Alter werden explizit genannt. Dann wird gezeigt, dass er,
obwohl er Angst hat und auch die Angst und Hilflosigkeit seiner Eltern spürt, er
seinen Eltern eine verlässliche Hilfe ist in dieser angespannten Situation. Gleichzeitig
dient diese Beschreibung seiner Tätigkeiten auch dazu, sein Zuhause zu
Beschreiben −
offensichtlich besitzt seine Familie Ställe mit Tieren wie Kühen,
Schweinen und Pferden und ein Haus (ganz unkompliziert deutet darauf die
Haustür hin). Ebenso weist die Schilderung der Arbeiten auf die Zeit hin, in
der das Ganze spielen könnte, also vermutet man als Leser*in schon mal, dass
wir uns in einem Mittelaltersetting befinden.
Schließlich kulminiert die Beschreibung der Angespanntheit in der rhetorischen
Frage, was zur Spannung beiträgt.
Ich würde die Spannung dieses Romananfangs als subtil oder unterschwellig bezeichnen,
sie setzt sich zusammen aus den verschiedenen Elementen wie
Stimmungsbeschreibung (Wetter, Geräusche, Geruch) und Verhalten der Figuren
(ohne, dass dabei gesprochen wird). Zudem −
wie schon erwähnt −
dienen manche
Beschreibungen mehreren Zwecken, wie der Charakterisierung und der Einführung in
Ort und Zeit.
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Kommen wir zum Beginn von Cornelia Funkes Tintenherz:
"Es fiel Regen in jener Nacht, ein feiner, wispernder Regen. Noch viele Jahre später musste Meggie bloß die Augen schließen und schon hörte sie ihn, wie winzige Finger, die gegen die Scheiben klopften. Irgendwo in der Dunkelheit bellte ein Hund, und Meggie konnte nicht schlafen, so oft sie sich auch von einer Seite auf die andere drehte.
Unter ihrem Kissen lag das Buch, in dem sie gelesen hatte. Es drückte den Einband gegen ihr Ohr, als wollte es sie wieder zwischen seine bedruckten Seiten locken. 'Oh, das ist bestimmt sehr bequem, so ein eckiges, hartes Ding unterm Kopf', hatte ihr Vater gesagt, als er zum ersten Mal ein Buch unter ihrem Kissen entdeckte. 'Gib zu, es flüstert dir nachts seine Geschichten ins Ohr.' − 'Manchmal!', hatte Meggie geantwortet. 'Aber es funktioniert nur bei Kindern.' Dafür hatte Mo sie in die Nase gezwickt. Mo. Meggie hatte ihren Vater noch nie anders genannt.
In jener Nacht − mit der so vieles begann und so vieles sich für alle Zeit änderte − lag eins von Meggies Lieblingsbüchern unter ihrem Kissen, und als der Regen sie nicht schlafen ließ, setzte sie sich auf, rieb sich die Müdigkeit aus den Augen und zog das Buch unter dem Kissen hervor. Die Seiten raschelten verheißungsvoll, als sie es aufschlug. Meggie fand, dass dieses erste Flüstern bei jedem Buch etwas anders klang, je nachdem, ob sie schon wusste, was es ihr erzählen würde, oder nicht. Aber jetzt musste erst einmal Licht her. In der Schublade ihres Nachttisches hatte sie eine Schachtel Streichhölzer versteckt. Mo hatte ihr verboten, nachts Kerzen anzuzünden. Er mochte kein Feuer. 'Feuer frisst Bücher', sagte er immer, aber schließlich war sie zwölf Jahre alt und konnte auf ein paar Kerzenflammen aufpassen. Meggie liebte es, bei Kerzenlicht zu lesen. Drei Windlichter und drei Leuchter hatte sie auf dem Fensterbrett stehen. Sie hielt das brennende Streichholz gerade an einen der schwarzen Dochte, als sie draußen die Schritte hörte. Erschrocken pustete sie das Streichholz aus − wie genau sie sich viele Jahre später noch daran erinnert! −, kniete sich vor das regennasse Fenster und blickte hinaus. Und da sah sie ihn."(Funke, Cornelia: Tintenherz. Sonderausgabe 2011. Hamburg: Dressler, S. 9-10.)
Worum es in dem Buch geht:
Verlagsgruppe Oetinger: Tintenherz
Tintenherz (wer kennt es nicht?)
steigt klassisch mit der Schilderung des Wetters ein 😉
Was die ersten Sätze jedoch besonders macht, ist zum einen das Adjektiv
"wispernd" als Beschreibung für den Regen (und Regen an sich hat ja schon eine
besondere Aussagekraft in Geschichten −
selten erwartet man etwas Gutes, wenn
es in Büchern oder Filmen regnet 😉), und zum anderen der Hinweis darauf, wie
genau Meggie sich noch an "jene Nacht" erinnern kann. Dies zusammen mit der
Erwähnung, dass sie nicht einschlafen kann, erzeugt eine gespannte Erwartung
der Leser*innen auf das, was nun über diese Nacht erzählt werden wird. Um die
Spannung nicht gleich aufzulösen, wird uns erst ein Einblick in das Verhältnis
von Meggie und ihrem Vater, Mo, gewährt. Das Buch unter ihrem Kissen ist der perfekte
Anlass, um Meggies und Mos Liebe zu Büchern aufzuzeigen und um durch ihr
Gespräch, das Meggie erinnert, beide schon mal ein wenig zu charakterisieren
und wiegesagt einen Einblick in ihr Vater-Tochter-Verhältnis zu geben. Funke
arbeitet in diesem Romananfang zudem mit einer Prolepse, einer Vorausdeutung,
die "jener Nacht" eine große Bedeutung zuschreibt und unsere Spannung beim
Lesen aufrechterhält. Auch in diesem Romananfang wird das Alter der
Protagonistin schon recht schnell explizit genannt. Schließlich erreicht die
Spannung ihren Höhepunkt mit der Beschreibung von Geräuschen - Meggie hört
draußen Schritte - auf die dann Meggies Beobachtung folgt: Ein Fremder steht
vor ihrem Haus, was in der Regennacht besonders gruselig wirkt.
Übrigens: Wenn man das Buch zum ersten Mal liest, fällt es vielleicht noch
nicht auf, aber
(und Achtung, das ist schon ein Spoiler!)
wenn man es zum wiederholten Mal liest, fällt die wunderschöne Hinleitung zu Staubfinger auf, die die Autorin über die Streichhölzer und die Kerzen herstellt.
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Hier der Anfang von James A. Sullivans Das Erbe der
Elfenmagierin:
(Das Erbe der Elfenmagierin stellt zu Anfang ein Dokument
vor, eines der Figur Naromee. Was ich analysieren möchte, ist das erste Kapitel
des Protagonisten, das in dem Buch aber eigentlicher Weise das zweite Kapitel
ist.)
"In der Elfensiedlung Ilbengrund gab es an diesem Feiertag nur ein Haus, in dem Ruhe herrschte. Es fügte sich zwischen den Fürstenpalast und den Turm der Gelehrten. Manche nannten es das schmale Haus, andere bezeichneten es als das Haus der Inkarnationen, für die meisten aber war es das Haus der Naromee − das Haus der Magierin, die vor mehr als zweitausend Jahren in der Fremde starb und in immer neuen Inkarnationen wiedergeboren wurde.
Zwischen den beiden hohen und prachtvollen Gebäuden wirkte das schmale Haus mit seinen drei Stockwerken, der zerfurchten Borkenfassade, dem tief gezogenen Schilfdach und den geschlossenen Fensterläden unscheinbar − als wollte es nicht mehr Aufmerksamkeit als nötig auf sich ziehen. Dabei war es an diesem Tag das wichtigste Gebäude der Siedlung.
Die Elfen von Ilbengrund feierten das Fest der Naromee. Da der Geburtstag der legendären Zauberin nicht in den Chroniken verzeichnet war und jene, die damals schon am Leben gewesen waren, sich nicht des Datums erinnerten, ehrte man Naromee an dem Geburtstag ihrer jeweiligen Inkarnation. In diesen Jahren − am neunundzwanzigsten Tag des fünften Mondes − was es der Geburtstag des Elfen Ardoas. An diesem Tag war es jedoch keine gewöhnliche Feier, denn Ardoas wurde zweiunddreißig Jahre alt und galt damit als erwachsen.
In der dritten Etage, direkt unter dem Dach, zwischen Schränken, Truhen und Büchern, betrachtete Ardoas an diesem Morgen das große Gemälde, das Naromee zeigte. Sie hatte kaum Ähnlichkeit mit ihm, denn sie war blass, er hingegen hatte braune Haut; sie hatte längere und spitzere Ohren als er; ihre Augen waren blau, die seinen dunkelbraun. Zwar hatten sie beide dunkles Haar, aber ihres, das fast bis zu den Hüften reichte, war glatt, seines war lockig. Auf dem Gemälde trug Naromee ein traditionelles Gewand einer Elfe aus Alvasur − blau, mit einem weiten Rock, aus dem ihr rechtes Bein zum Teil herausschaute und den magischen Teil ihres Unterschenkels zeigte. Das Segment wirkte wie ein lang gezogener Stein, der mit der Haut oberhalb und unterhalb verwachsen war. Der Sage nach hatte ein Drache Naromee verletzt, und sie war nur knapp mit dem Leben davongekommen."(Sullivan, James A.: Das Erbe der Elfenmagierin. Die Chroniken von Beskadur 1. München: Piper 2021,
S. 11-12.)
Worum es in dem Buch geht:
Piper Verlag: Das Erbe der Elfenmagierin
James A. Sullivan arbeitet am Anfang seines Romans mit Gegensätzen, die nicht diese krasse Form von Spannung erzeugen, wie man sie aus Gruselfilmen kennt, aber eine Form von Spannung, die die Leser*innen interessiert bleiben lässt. Er beginnt mit dem Wohnhaus des Protagonisten, ohne dass wir sofort wissen, dass es sein Wohnhaus ist. Das einzige ruhige Haus − was hat es damit wohl auf sich? Die verschiedenen geläufigen Bezeichnungen für das Haus geben schon mal einen Einblick in das, was uns erwartet: Inkarnationen. Und einen für die Handlung sehr wichtigen Namen: Naromee. Bevor sich der Erzähler den Bewohnern des besonderen Hauses widmet, beschreibt er es zuerst und verwendet eine Personifikation, die abermals einen Gegensatz aufmacht: Das Haus, das keine Aufmerksamkeit will, heute jedoch anscheinend sehr viel Aufmerksamkeit aushalten muss. Wiederum ein Mittel, um unser Interesse beizubehalten. Eine Erklärung für den besonderen Tag wird dann doch schon geliefert und damit das interessant erscheinende Wort "Inkarnation" ein wenig mehr erläutert. In dem Zuge wird der Name des Protagonisten und auch hier explizit sein Alter genannt − letzteres in Zusammenhang mit der besonderen Altersrechnung der Elfen. Schließlich wird uns Ardoas gezeigt. Der Vergleich zwischen dem Gemälde Naromees und seinem Aussehen ist ein geschicktes Mittel, um uns das Aussehen der Hauptfigur zu beschreiben, ohne dass es gezwungen wirkt. (Das Mittel des Spiegelbilds ist mittlerweile wohl genug benutzt worden.) Mit der Schilderung von Naromees Aussehen bringt der Erzähler außerdem noch etwas Interessantes mit ein, das einige Leser*innen hellhörig machen dürfte: Drachen. Ob es sie in der Welt nur früher gab oder noch gibt, kann man nur herausfinden, wenn man weiterliest 😉 Die Welt in Sullivans Roman ist komplex, weshalb die Geschichte viele Passagen benötigt, die den Lesenden Informationen zuspielt, und auf diesen ersten eineinhalb Seiten sind die ersten Infos nicht zu überfordernd in die Handlung eingewebt − das kann man sich als ein gutes Vorbild nehmen!
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Und nun noch der Beginn von Christelle Dabosʼ Die Verlobten des Winters, dem ersten Band der Spiegelreisenden-Saga:
(Ich persönlich finde den Anfang von Dabos'
Fantasy-Roman unheimlich gut gelungen. Mich spricht er sofort an. Warum,
werdet ihr gleich selbst lesen 😁 Das erste Kapitel ist wie auch bei
Sullivans
Roman ein Ausschnitt aus einem Dokument, hier als "Fragment" betitelt.
Worüber
ich schreiben will, ist das zweite Kapitel −
das erste Kapitel der
Protagonistin sozusagen.)
"Es heißt oft, alte Behausungen hätten eine Seele. Auf der Arche Anima, wo Dinge ein Eigenleben führen, neigen die alten Häuser vor allem dazu, furchtbar schrullig zu werden.
Das Gebäude des Familienarchivs, zum Beispiel, war stets übler Laune. Immerzu ächzte es, knarzte, tropfte und schnaubte, um seine Unzufriedenheit kundzutun. Es konnte die Zugluft nicht ausstehen, die im Sommer die Türen knallen ließ, und den Regen, der im Herbst die Dachrinne verstopfte. Es hasste die Feuchtigkeit, die ihm während des Winters in die Mauern kroch, ebenso sehr wie das Unkraut, das jedes Frühjahr wieder in seinem Hof zu sprießen begann.
Mehr als alles andere aber verabscheute das Gebäude Besucher, die sich nicht an die Öffnungszeiten hielten.
Sicherlich war das der Grund, warum es an diesem Septembermorgen noch mehr ächzte und knarzte, tropfte und schnaubte als sonst. Es spürte, dass jemand kam, obwohl es noch viel zu früh dafür war. Obendrein stand dieser Gast nicht mal draußen vor der Tür, wie es sich gehörte. Nein, er verschaffte sich Zutritt wie ein Dieb, direkt durch die Garderobe.
Dort wuchs plötzlich eine Nase mitten aus dem Spiegelschrank.
Sie schob sich weiter vor, und bald folgten ihr eine Brille, eine geschwungene Augenbraue, Stirn, Mund, Kinn, Wangen, Augen, Haare, ein Hals und Ohren. Bis zu den Schultern aus dem Spiegel ragend, blickte der Eindringling erst nach rechts, dann nach links. Nun tauchte etwas weiter unten ein Knie auf, und schließlich stieg die ganze Gestalt aus dem Glas hervor wie aus einer Badewanne. Einmal herausgeschlüpft, sah man von ihr nichts weiter als einen abgetragenen Mantel, eine Brille und einen langen, dreifarbigen Schal.
Unter all diesen Schichten verborgen befand sich Ophelia.
Um sie herum protestierte nun die gesamte Garderobe, empört über den Störenfried, der die Archivordnung derart missachtete. Die Schränke quietschten in den Angeln und stampften mit den Füßen, während die Kleiderbügel laut klappernd aneinanderstießen, als würde ein Poltergeist zwischen ihnen sein Unwesen treiben.
Dieser Wutausbruch beeindruckte Ophelia nicht im Geringsten. Sie war die Launen des alten Gemäuers gewohnt.
'Schsch', flüsterte sie. 'Ganz ruhig.'
Sofort hörten die Möbel auf zu rumoren, und die Kleiderbügel verstummten. Das Archivgebäude hatte sie erkannt."
(Dabos, Christelle: Die Verlobten des Winters. Band 1 der Spiegelreisenden-Saga. 3. Auflage 2019 der dt. Ausgabe 2019. Berlin: Insel, S. 9-10)
Worum es in dem Buch geht:
Suhrkamp Insel: Die Verlobten des Winters
Indem sich die Erzählinstanz eines Allgemeinspruchs als
Einstieg bedient, kann von da aus der Sprung zur Welt der Spiegelreisenden-Saga
hergestellt werden. Mithilfe der Darstellung des Gebäudes, das wie alle Dinge
auf Anima ein Eigenleben hat, steigt der Roman also sofort in die Welt ein,
ohne zuerst eine Person vorzustellen. Die sprachliche Beschreibung zum
Charakter des Gebäudes und seiner Reaktion auf den unbekannten Eindringling
verdeutlicht schon einmal die Erzählstimme des Romans, die u. a. eine
angenehme Prise Humor beinhaltet.
Die allererste Beschreibung der Protagonistin ist sehr originell; eine solche
Aufzählung der Körperteile, die sich nacheinander aus dem Spiegel schälen, habe
ich noch nirgends gelesen. Was uns dieser Anfang bis dahin schon verrät, ist:
Die Protagonistin kann durch Spiegel reisen (okay, der Titel verrät es
vielleicht auch schon 🤣) und sie tut das auch bei Häusern, denen das
nicht passt. Außerdem zeigt die
Beschreibung ihrer Kleidung, dass sie anscheinend nicht viel Wert auf Klamotten
legt. Weiterhin wird dann deutlich, dass sie wahrscheinlich öfter auf
ungebetenem Weg in das Gebäude eindringt, da sie seine sich unübersehbar
äußernde Unzufriedenheit gewöhnt ist. Und schließlich erkennt sie das Archiv
auch, sodass wir raten dürfen, ob sie eine willkommene Diebin oder vielleicht
eine Angestellte ist.
Der Einstieg mit dem Eigenleben des Hauses macht definitiv neugierig und
Spannung wird aufgebaut über den erst unbekannten Eindringling. Die Spannung bleibt
über diesen Ausschnitt des Anfangs zudem bestehen, da wir noch immer nicht
wissen, was Ophelia in dem Archivgebäude beabsichtigt, und da es −
meiner
Ansicht nach zumindest −
auch das Interesse für ihre Fähigkeit, durch Spiegel
zu reisen, weckt.