Von menschlichen Charakteren in der Fiktion

02.08.2022

Widmen wir uns heute mal den Menschen in unseren Geschichten.
Ich bin ja ein Fan von sehr echt wirkenden Charakteren, wie ich sie beispielsweise in Katharina V. Haderers Black Alchemy-Trilogie gefunden habe oder in Simone Lapperts Der Sprung. (Große Leseempfehlung für beide! Unbezahlte Werbung, weil Nennung.)

Hier sind ein paar (okay, es sollten anfangs nur ein paar sein, aber es ist vielleicht etwas ausgeufert) hilfreiche Fragen und Anregungen für die Entwicklung der Persönlichkeit deiner authentischen Buchfigur:
(Ich wechsle zwischen Protagonist und Protagonistin, es sind jeweils alle Geschlechter mitgemeint.)

  • Bleibt das Aussehen in der ganzen Geschichte gleich (oder ändert der Autor*die Autorin zwischendrin die Haarfarbe des Protagonisten, ohne es selbst zu bemerken?); Wenn die Kleidung immer detailliert beschrieben wird: dient das der Charakterisierung? Oder hält es beim Lesen eher auf (weil man sich sowieso meistens ein eigenes Bild im Kopf macht)? Hat die Hauptfigur ein besonderes Merkmal (Aussehen, Kleidung, Accessoire ...), das für die Geschichte eine Rolle spielt?
  • Ist die Figur nachvollziehbar? (Eine Persönlichkeit setzt sich aus passiv Erlebtem, bewussten Entscheidungen, Vorlieben, Abneigungen, Hobbys, Umgang mit anderen Menschen, Gedanken, aktiven Erfahrungen, jeweiligem Grad an Allgemeinwissen, Fachwissen, und, und, und zusammen. Das sollte im besten Fall ein einigermaßen nachvollziehbares Gesamtbild abgeben, damit die Lesenden Handlungen, Gefühle, Erwartungen und Äußerungen verstehen können − auch wenn sie damit nicht sympathisieren.)
  • Fühlt die Person sich in einer gewissen Umgebung sehr wohl? (Natur: gerne im Wald/Garten/Meer ...; Stadt oder Dorf; Zug oder Auto; unter vielen Menschen z. B. in Clubs, auf Partys, auf Festivals oder nur mit wenigen Menschen bei Treffen in Cafés etc.)
  • Mit welchen Menschen fühlt die Person sich am wohlsten? (Geschwister, Eltern, Großeltern, beste Freunde, Arbeitskollegen, Nachbarn ...)
  • Welchen geheimen Traum hat die Person, was würde sie gerne mal machen, was würde sie gerne erreichen? Hindern sie daran Ängste oder erlernte Glaubenssätze / Meinungen anderer?

  • Aus welcher sozialen Schicht kommt die Person?

  • Welche Einstellung hat die Person zu Geld?

  • Wie steht die Figur zu politischen Thenem? Beteiligt sie sich an Diskussionen über aktuelle politische Entscheidungen? Beeinflusst das Weltgeschehen bzw. Ereignisse wie Kriege, Hungersnöte, Naturkatastrophen usw. ihr Handeln und Denken? (Spendet sie bspw. an bestimmte Organisationen?) Oder war sie in der Vergangenheit engagiert, was politische Themen betrifft?
  • Wie aufmerksam ist deine Figur im Hinblick auf marginalisierte Gruppen? Nimmt die Diskriminierung wahr, auch wenn sie selbst nicht davon betroffen ist?
  • Wo wohnt die Person (Wohnung, Haus, WG, bei Freunden auf der Couch ...) und ist sie zufrieden mit ihrem Zuhause? Hat sie ein Zuhause?

  • Welche Einstellung hat die Person zu Tieren, macht sie Unterschiede, wie sie Tiere sieht? (Z. B. isst Hühnchen, hat als Haustier eine Katze.)

  • Würde sie gerne weniger arbeiten? Arbeitet sie etwas körperlich oder geistig Anstrengendes? Hat sie einen Job, den sie eigentlich gar nicht will? Gibt es Konflikte am Arbeitsplatz?

  • Gibt es Konflikte in der Familie? Gibt es einen Generationenkonflikt innerhalb der Familie oder kleinere zwischen Geschwistern oder zwischen Eltern und Kindern? Oder gibt es einen zentralen, großen Konflikt? Wer hält dabei zusammen oder wechseln die Seiten des Öfteren?

  • Gibt es Konflikte innerhalb des engsten Freundeskreises?

  • Wie würden die engsten Nahestehenden die Person beschreiben?
  • Erlebt die Figur die Jahreszeiten bewusst? Welche Temperaturen belasten sie? Hat sie ein Lieblingswetter?

  • Welche Ängste hat die Person? Fühlt sie sich sicher, wenn sie ihr Haus verlässt? Braucht sie Überwindung, um jemanden anzusprechen?

  • Denkt sie nach Gesprächen noch lange darüber nach, was sie gesagt hat und was die anderen deshalb über sie denken?

  • Beobachtet sie Menschen genau oder muss sie immer genau gesagt bekommen, wie sich jemand fühlt, was ihn stört etc., bis sie merkt, dass jmd. z. B. unzufrieden ist?

  • Welche Lebenseinstellung hat die Person von ihren Erziehungsberechtigten mit auf den Weg bekommen? Hat sie als Erwachsene Dinge verlernt/neu gelernt, die sie von den Eltern früher gelernt hat? Gibt es ein Ereignis aus der Kindheit, das die Person nachhaltig geprägt hat oder das immer noch Auswirkungen auf ihr Verhalten hat?

  • Lebt die Person nach Intuition oder nach Rationalität oder einem Misch aus beidem? Macht sich die Person viele Gedanken über die Zukunft und/oder die Vergangenheit oder lebt sie mehr im Jetzt?

  • Hat die Figur ein Geheimnis, das sie niemandem sagen kann oder das nur eine einzige weitere Person weiß? Was würde es für sie bedeuten, wenn das Geheimnis ans Licht kommt? Oder wäre die Figur gerne geheimnisvoll und leidet unter ihrem langweiligen Leben?

  • Welche Musik hört die Figur gerne? (Kann bestimmte Assoziationen wecken, z. B. bestimmte politische Haltung, die dadurch vertreten ist ...)

  • Welche Verbindung hat die Figur zu Kunst oder hat sie gar keine dazu? Wie lebt sie ihre Kreativität aus oder hindert sie etwas daran (inneres oder äußeres Hindernis)?
  • Kann die Figur Stille aushalten? Bzw. kann sie mit sich selbst sein oder braucht sie ständig Ablenkung oder etwas zu tun?

  • In jeglichen Beziehungen (romantische, Freundschafts-, Kollegen- etc.): Welchen Part übernimmt dein Prota? Ist er tonangebend, aktivierend oder eher folgsam? Ist er sich dessen bewusst? Möchte er immer alles harmonisch oder braucht er konstruktive Diskussionen, sobald Unzufriedenheit auftaucht? Oder gerät er immer in Streits und hat dabei keine Kontrolle über seine Emotionen? Warum hält dein Prota an den Beziehungen, die er hat, fest? Aus ehrlicher Zuneigung oder aus Pflichtgefühl? Was geben ihm die Beziehungen? Was können sie ihm evtl. nicht geben, was er eigentlich möchte/braucht?

  • Gibt es eine ausgewogene Beziehung als Ausgleich zu z. B. einer toxischen in deiner Geschichte?

  • Geht deine Prota offen mit ihren Gefühlen um oder wäre sie am liebsten ein Wesen ohne Gefühle? Fühlt sie sich angegriffen, wenn jemand wütend ist, oder sieht sie, dass derjenige erst einmal mit seinen eigenen Gefühlen klarkommen muss? Kommt sie mit ihren eigenen Gefühlen klar?

  • Wie reagiert die Prota, wenn ihre Grenzen überschritten werden? (nicht nur körperlich, sondern auch, wenn sie z. B. ungefragt miteingeplant wird etc.)

  • Hat die Person mehrere innere Baustellen oder einen großen inneren Konflikt? Wie ändert sich das im Laufe der Geschichte? Überwindet sie alle oder zumindest ihr größtes inneres Problem und lernt dabei, auch wenn noch nicht alles geklärt ist, weiß sie sich jetzt zu helfen bzw. wo sie Hilfe bekommen kann?

  • Handelt und spricht der Protagonist bedacht und was muss passieren, damit er unbedacht handelt oder die Kontrolle verliert?

  • Wie tröstet dein Protagonist traurige Menschen? (Findet er immer die richtigen Worte? Sagt er nichts und ist einfach nur da? Wird er nervös? Sagt er so etwas wie: "Reiß dich zusammen"? ...)

  • Wenn deine Figur eine Erziehungsberechtigte ist, wie geht sie mit Kindern um? Welche Werte will sie vermitteln? Tut es ihr leid, wenn sie mal ausrastet? Etc. (Für diesen Punkt lässt es sich auch super in Erziehungsratgebern recherchieren, je nachdem für welchen Persönlichkeitstyp kann man auch mal ältere Ratgeber lesen, mit denen man nicht übereinstimmen würde, die aber zu der Figur passen)


Natürlich muss deine Figur keine Verletzungen aus der Kindheit haben, kein niedriges Selbstbewusstsein, sie kann auch eine glückliche Kindheit, großes Selbstvertrauen und Optimismus haben. Dann braucht die Geschichte trotzdem einen inneren Konflikt der Figur, der eine Hintergrundgeschichte haben muss − denn eine innere Verletzung kommt nicht von nichts.

Auch beobachtbar ist, dass viele Menschen ihre Gefühlswelt komplett ignorieren möchten, was natürlich nicht immer gelingt. Was passiert mit einer Figur, die bspw. nach immer höheren Jobpositionen strebt und dabei ihre Bedürfnisse vernachlässigt? Wie macht sich das bemerkbar, vielleicht noch bevor die Figur selbst bemerkt, dass sie sich selbst, ihrem Körper und ihrem seelischen Wohlbefinden, mehr Aufmerksamkeit schenken muss?

...

Aus all dem wird hoffentlich ersichtlich, dass du so viel wie möglich über deine Figur wissen solltest. Selbst wenn nicht alles in deiner Geschichte benannt wird, merkt man es als Leser*in, wenn die Erzählinstanz respektive Autor*in die eigenen Figuren genau kennt, weil das der Geschichte mehr Tiefe verleiht und beim Schreiben auch dazu führt, dass man hier und da kleine Details einstreuen kann, die eben zu dieser Tiefe beitragen.

Was den psychologischen Aspekt angeht: Nicht nur die Erfahrungen sind wichtig, sondern auch die Reaktionen der Figur auf z. B. passiv Erlebtes, sprich, etwas, wobei sie sich nicht wehren konnte. Diese Reaktionen sind bedingt durch innere Ängste, Grad des Selbstbewusstseins, Grad der Selbstliebe (wie wichtig ist sich die Figur selbst, um sich zu verteidigen oder um sich ausnutzen zu lassen etc.), eingetrichterte Glaubenssätze aus der Kindheit, Vorbilder aus der Kindheit (beobachtetes Verhalten bei Erwachsenen) usw.


Ein Mensch ist ein komplexes Wesen, und Buchfiguren sollten das auch sein, um authentisch zu wirken. Deshalb ist die obige Liste auch bei Weitem nicht vollständig! Je nachdem, welches Schwerpunktthema deine Geschichte hat, lassen sich Punkte weiter vertiefen und spezifisch ergänzen − und bestimmt habe ich Bereiche vollkommen vergessen. (Wiegesagt, Komplexität und so, vielleicht auch unendliche Tiefen des Menschen? 🤔😂) Nicht alle Punkte werden sich auf jede Geschichtenwelt anwenden lassen, jedoch sind vielleicht hilfreiche Impulse dabei, die auch für das Entwickeln der sozialen Strukturen einer Fantasy-Weltund wie sich deine Hauptfigur darin bewegt nützlich sein können.


Hier noch ein paar Übungsempfehlungen, um deine Sinne für die menschliche Komplexität zu schärfen:


- Beobachte einen Tag lang deine eigenen Gedanken: Wie viel Kritik, wie viel Zweifel, wie viel Vorurteile, wie viel Zukunftssorgen, wie viel Vergangenheit (schöne Erinnerungen oder nicht so schöne Erinnerungen), wie viel Humor, wie viel Nachdenken über andere, wie viel über dich selbst ist dabei? Wie könnte ein stream of consciousness deines Protagonisten aussehen? Was beschäftigt ihn zu Beginn der Geschichte? Wandelt sich das?

- Welche täglichen Gewohnheiten hast du selbst? (Prüfst du zweimal, ob der Herd aus ist, bevor du aus dem Haus gehst? Vergisst du, regelmäßig zu lüften? Putzt du jeden Tag ein bisschen oder machst du einen Großputz pro Woche? Kochst du jeden Tag oder kaufst du Essen-to-go oder isst du Aufgewärmtes etc.?) Wie lebt deine Protagonistin ihren Alltag?

- Welche großen Fragen stellst du dir über die Welt oder über das Menschsein oder den Sinn des Lebens? Findest du ähnliche Fragen in deiner Figur wieder? Ist eine dieser großen Fragen wichtig für die Geschichte oder das Leben der Protagonistin?

- Hat die Figur eine kleinere gesundheitliche Einschränkung (Heuschnupfen, Brillenträger, Reizdarm ...) oder eine Behinderung? (Sensitivity Reading!) Wie geht die Figur damit im Alltag um? Wie denkt sie darüber? Schränken die Reaktionen anderer sie in ihrer Freiheit ein? Erlebt sie fehlende Barrierefreiheit? Gibt es dazu einen Ausgleich durch liebevolle Mitmenschen, die mit der Figur so umgehen, wie sie es gern hätte?

- Beobachte die Menschen in deinem Umfeld: Wie verhalten sie sich, wenn sie sich unbeobachtet fühlen? Wie verhalten sie sich unter geliebten Menschen? Verhalten sie sich anders, wenn sie neue Leute kennenlernen oder mit fernen Bekannten kommunizieren? (Verändert sich ihre Gestik oder ihre Sprache? Lächeln sie bei den einen mehr und bei den anderen weniger? Wirken sie angespannt oder entspannt? Sind sie ehrlich? ...) Wie freundlich oder unfreundlich sind sie zu Menschen, die sie evtl. als unter ihnen stehend betrachten? (An der Kasse, zu Obdachlosen, zu Handwerkern ...) Wie verhalten sie sich, wenn sie geschafft sind? Wie starten sie in den Tag? Welche Gewohnheiten haben sie, die sie selbst vielleicht nicht wahrnehmen? ... Was davon kannst du für deine Figur übernehmen, was sie einzigartig und authentisch macht?
(Diese Übung ist nicht dazu gedacht, andere Menschen zu bewerten, sondern gilt lediglich der Beobachtungsschärfe, die dem Erfassen der Persönlichkeit deiner Buchfigur hilft. Ebenso verhält es sich mit der folgenden Übung.)

- Beobachte Entwicklungen von z. B. deinen Geschwistern oder Freunden, die du seit dem Kindergarten/der Grundschule kennst: Hat sich ihre Persönlichkeit um 180 Grad gedreht durch ein bestimmtes Ereignis? Haben sie sich verändert, obwohl niemand weiß, warum? Haben sie sich nicht sonderlich verändert? Welche Interessen und Träume hatten sie als Kind? Hatten sie die als Teenager immer noch und als Erwachsener? Haben sie Phasen, in denen euphorisch etwas Neues lernen oder ein neues Hobby betreiben; bleibt das Neue in ihrem Leben oder wenden sie sich wieder anderen Dingen zu? Hat ein neues Interessensgebiet oder neue Bekanntschaften sie verändert? Welche Freundschaften/Bekanntschaften haben sie abgebrochen? Bindet sie etwas an ihren Heimatort oder hält sie dort nichts? Wie ist das bei deinem Protagonisten?

- Gibt es Figuren aus Filmen, die du besonders faszinierend findest? (Nicht wegen der Schauspieler, sondern wegen der Persönlichkeit.) Kannst du benennen, was die Faszination auslöst? Was macht diese Charaktere so einzigartig? Was kannst du daraus für deine Figur und ihre Entwicklung lernen?



So, das war wieder lang 🙈 Danke an alle, die durchgehalten haben ;)

Ich hoffe, dieser Beitrag ist hilfreich für alle Geschichtenerzähler*innen, und ich freue mich sehr, wenn ihr ihn mit anderen Autor*innen teilt, damit so viele wie möglich davon profitieren können.
Bei Anmerkungen, Fragen, Feedback schreibt mir gerne jederzeit! 😊

Herzlich,
eure Melina