Vom Gesang der Berge

02.07.2022

Eine Inhaltsangabe zu dem Buch Der Gesang der Berge von Nguyễn Phan Quế Mai findet ihr auf der Verlagsseite.


Die Geschichte von Huʼoʼngs Familie in der langen Zeit des Vietnamkrieges erzählt von den Kriegsstrapazen, von Traumata und Verlust. Vor allem jedoch erzählt sie von der Stärke des Mädchens, ihrer Großmutter und ihrer Mutter. Und von Liebe.

Erzählt wird aus der Ich-Perspektive von Huʼoʼng und aus der ihrer Großmutter; die Enkelin berichtet von ihrer Kindheit ab dem Jahr 1972, ihre Großmutter erzählt von den Jahren seit 1930. Huʼoʼngs Alltag besteht aus Bombendrohungen und Bombardierungen ihrer Heimatstadt Hà Nội. In Abwesenheit ihrer Eltern, die mit in den Krieg gezogen sind, lebt sie mit ihrer Großmutter zusammen, die nichts unversucht lässt, um ihrer beider Überlebenschancen zu sichern, denn sie glaubt daran, dass die Familie nach dem Krieg wieder vereint sein wird. Trotz Lebensmittelknappheit und der Zerstörung ihres Zuhauses bringt die Großmutter beide durch die schwere Zeit und unterstützt Huʼoʼngs Wissensdrang, indem sie ihr Bücher besorgt (auch englischsprachige, damit Huʼoʼng versteht, wie die Menschen in den USA leben und dass sie nicht nur ihre Feinde sind).

In den Kapiteln, die aus der Perspektive der Großmutter geschrieben sind, richtet sich die Erzählerin an Huʼoʼng und berichtet von dem Aufkommen der Konflikte im Land und dem Beginn des Krieges. Nicht nur Huʼoʼng entwickelt noch mehr Bewunderung für ihre Großmutter, auch als Leser*in ist es berührend, von dem Schicksal einer Mutter zu erfahren, die wegen politischer Unruhen mit vier Kindern eine strapaziöse Flucht antritt und unterwegs ob der Hungersnot Entscheidungen treffen muss, die das Herz einer Mutter zerreißen. Ihr Überlebenswille und der Glaube an Friedenszeiten sowie die Liebe zu ihrer Familie lassen sie eine Stärke entwickeln, die sie an ihre älteste Tochter und an deren Tochter, die Enkelin Huʼoʼng, weitergibt.

Schauen wir uns an, wie die Autorin die zwei Ich-Perspektiven zu einem Roman verwebt hat:

Das erste Kapitel spielt im 21. Jahrhundert und verrät uns Leser*innen schon, dass die Großmutter mittlerweile gestorben ist. Huʼoʼng erinnert sich am Gedenkaltar an die weisen Worte ihrer Oma, die auch schon überleiten zum ersten Kapitel über Huʼoʼngs Kindheit. Lässt dieses Kapitel noch nicht erahnen, dass es zwei Ich-Erzählerinnen gibt, offenbart sich dies mit dem dritten Kapitel. Dort erklärt uns die Erzählweise der Großmutter, wie diese zweite Ich-Perspektive in die Geschichte passt:
(Untenstehendes Zitat und folgende Zitate entnommen aus: Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge. Insel 2021.)

"Guave, weißt du noch, wie wir früher durch das Alte Viertel von Hà Nội gegangen sind? Wir sind oft vor einem Haus in der Hang Gai, der Seidenstraße, stehen geblieben. Obwohl ich niemanden kannte, der dort wohnte, standen wir vor dem Haus und spähten durch das Tor. Erinnerst du dich, wie schön alles war? [...] Jetzt kann ich dir verraten, warum ich immer dorthin wollte: Es sieht genauso aus wie das Haus meiner Kindheit in Nghệ An. [...] Ah, du willst wissen, warum ich dir nie gesagt habe, dass ich einen Bruder und eine Tante habe. Ich erzähle dir bald von ihnen, aber willst du nicht erst das Haus meiner Kindheit besuchen? Um dorthin zu kommen, müssen wir dreihundert Kilometer weit reisen. Wir verlassen Hà Nội und folgen der Nationalstraße durch die Provinzen Nam Định, Ninh Bình und Thanh Hóa. Dann biegen wir bei einer Pagode namens Phú Định ab und durchqueren mehrere Ortschaften, bis wir nach Vĩnh Phúc kommen, ein Dorf im Norden von Vietnam. Der Name dieses Dorfes ist etwas besonderes, Guave, denn er bedeutet 'Auf ewig gesegnet'. In Vĩnh Phúc wird dir jeder mit Freuden das Tor zum Heim unserer Vorfahren zeigen - dem Haus der Familie Trần. Sie werden mit dir die Dorfstraße entlanggehen, vorbei an einer Pagode, deren Dachecken sich nach oben biegen wie die Finger einer anmutigen Tänzerin, und an Teichen, in denen Kinder und Wasserbüffel herumplanschen. Im Sommer wirst du die Wolken von purpurnen Blüten an den xoan-Bäumen bestaunen und die roten gạo-Blumen, die durch die Luft segeln wie brennende Boote. Während der Reisernte wird das Dorf seinen goldenen Teppich aus Stroh ausbreiten, um dich willkommen zu heißen." (S. 34f.)

Damit wir Leser*innen nicht verwirrt sind aufgrund der zweiten Ich-Perspektive, zeigt uns dieses erste Kapitel der Großmutter also die direkte Anrede an ihre Enkeltochter (die sie mit "Guave" anspricht) und einen Erzählstil, der uns vermuten lässt, dass sie ihrer Enkelin ihre Geschichte mündlich erzählt. Die vielen Anreden an die Enkelin und das Kommentieren ihrer Reaktion auf das Erzählte wird im Laufe der Großmutter-Kapitel weniger, da es sonst wahrscheinlich auch zu sehr den Lesefluss ihrer Geschichte unterbrechen würde, die ja in einer anderen Zeit spielt als diejenige, von welcher uns Huʼoʼng selbst berichtet.
Wie die Großmutter ihre Erzählung beginnt, finde ich sehr gelungen: Das gedankliche und erzählerische Reisen zu einem Ort, den ihre Enkelin nicht kennt, der für die Großmutter aber so eine große Bedeutung hat.

In dem obigen Zitat kann man zudem auch sehr schön erkennen, dass die Sprachwelt in der Welt der Geschichte verbleibt. (Ein sehr wichtiger Aspekt guten Stils. Die sprachlichen Vergleiche und atmosphärischen Beschreibungen dürfen natürlich nicht aus Zeit und Ort der Geschichte herausfallen.) Dadurch lernen wir Leser*innen nicht nur über den Vietnamkrieg dazu, sondern auch über das ländliche und städtische Leben im Vietnam des 20. Jahrhunderts.
Zur Sprache ist auch noch anzumerken, dass immer wieder vietnamesische Wörter eingestreut werden, an die man sich, nachdem sie bei der ersten Nennung erklärt werden, bei wiederholter Nennung gut erinnern kann. Auch Sprichwörter bzw. Lebensweisheiten tauchen auf Vietnamesisch auf, die ich persönlich faszinierend fand. Hier ein kleines Beispiel:

"Das Sonnenlicht schimmerte auf den erlesenen Stoff und brachte das eingewebte Muster aus dem Wort Phúc − Segen − zum Leuchten. Mit der Bluse über dem einen Arm und Sáng auf dem anderen ging ich weiter. Cái khó ló cái khôn − Schwierigkeit gibt der Weisheit Licht." (S. 295)


Ich kann "Der Gesang der Berge" nur empfehlen! Und sende meiner Schwester, die mir das Buch zu Weihnachten geschenkt hat, nochmals ein Dankeschön :)
Es ist sprachlich sehr bildlich und − ich weiß nicht, wie ich es anders bezeichnen sollte − liebevoll geschrieben. Und inhaltlich einfach berührend. Man erfährt nicht nur etwas von dem harten Leben der vietnamesischen Bevölkerung im Vietnamkrieg, sondern auch über das Leben zu dieser Zeit in Vietnam. Die Protagonistinnen wurden mir beim Lesen sehr sympathisch, da sie eine Stärke entwickeln, die ihre Familie zusammenhält, und da sie gleichzeitig sowohl eine moderne Lebenseinstellung haben, als auch die alten Weisheiten schätzen. Atmosphärisch zieht einen das Buch in das Vietnam während des Kriegs hinein, was aber nicht nur Düsternis bedeutet, sondern auch die Erfahrung der ländlichen Schönheit während des Lesens.



Kennst du das Buch bereits? Oder kannst du weitere Bücher aus und über Vietnam empfehlen?
Ich freue mich auf den Austausch mit dir!

Herzlich, eure Melina