Schreiben durch Emotionen

10.11.2022

Ein etwas anderer Beitrag zum emotionalen Schreiben. Es werden psychische Erkrankungen erwähnt.



Emotionen als Katalysator für Texte nutzen − dass das überhaupt möglich ist, habe ich erst vor zwei Jahren begriffen. Mit der inneren Aufarbeitung meiner Vergangenheit machten sich Gefühle bemerkbar, die mich überforderten. Ein freier Therapieplatz war nicht in Sicht. Wo sollte ich hin mit all der Wut, dem Schmerz, der Trauer und mit der überhandnehmenden Depression? Wie sollte ich mit den lange gespeicherten Gefühlen, die nach zwei Jahrzehnten an die Oberfläche brodelten, umgehen − ohne professionelle Unterstützung? Hatte ich es doch nie gelernt, warum Gefühle überhaupt aufkommen, geschweige denn, was man dann mit ihnen macht, ohne andere und sich selbst zu verletzen, und wie man so laute Gefühle wie den Zorn aus der Kindheit wieder entlassen kann.

Was mich rettete, war das Schreiben. Es ist kein Ersatz für Therapie, kein Allheilmittel − das schicke ich gleich vorweg.
Doch in meiner Situation vor zwei Jahren war das kreative Schreiben die einzige helfende Hand, die meine suchende ergriff. Mit einem Mal verstand ich, was kreatives Schaffen leisten kann. Ob es das Malen ist, das Schreiben, das Komponieren oder welche künstlerische Ausdrucksart auch immer, ob zu Veröffentlichungszwecken oder nicht: wenn die innere Welt sich auf einmal einen Ausdruck verschafft, der einen selbst überrascht, wenn Gefühle sich in Worte verwandeln, Zeilen, Strophen, Gedichte (wie es in meinem Fall war), wenn ein Aufseufzen durch den Körper geht, weil da endlich, endlich etwas wahrgenommen und gesagt wird, wenn die Handbewegung beim Schreiben Sprachrohr für das Innerste ist und schonungslos ehrlich offenbart, wie viele Wunden wir in uns tragen, wie viele davon seit Jahren unverheilt sind, immer wieder bluten, nie verheilen können. Sich durch die überfordernden Gefühle hindurch schreiben: dieses Schreiben kann die Wunden nicht heilen, aber es kann den Sturm in uns zähmen, indem es ihn wahrnimmt und ihm eine Stimme verleiht.
Für den Prozess meines Gesundwerdens (in dem ich mich immer noch befinde) war das der erste Schritt: wahrgenommen werden, sich selbst wahrnehmen, Emotionen und Gefühle wahrnehmen, alte und neue Verletzungen, Heruntergeschlucktes, nie Ausgesprochenes; wahrnehmen, wofür ich mich schäme, was ich nicht besser wusste. Wahrnehmen, wo sich all das festgesetzt hat, und es durch meine Schreibhand kommunizieren lassen, ihm Berechtigung zusprechen.


Ein solches emotionales Schreiben ist roh, ehrlich, ungeschönt. Es ist oftmals nicht dazu da, sofort in die Welt entlassen zu werden. Es dient zuallererst unserer eigenen Verarbeitung. Haben wir es aufgeschrieben, was aus dem Inneren nach draußen drängte, können wir die mit unseren Verletzungen gefüllten Seiten sorgfältig wegschließen und mit Therapeut*innen die Themen angehen, die sich beim Schreiben gezeigt haben.
Emotionales Schreiben oder Schreiben durch und mit den eigenen Emotionen ist ein erster Schritt zur Verarbeitung, es kann eine therapeutische Wirkung haben und es kann uns auf den Weg bringen, der uns ganz werden lässt.


Bei mir verknüpfen sich Gefühle, die schreibend verarbeitet werden wollen, meistens mit dem ersten Satz, der mir so lange im Kopf herumgeistert, bis ich nach Zettel und Stift greife. In der Überarbeitung kann es gut sein, dass ich diesen ersten Satz abändere, in der Rohfassung jedoch, wenn ich ganz in diesem Gefühl feststecke, ist es der wichtigste Satz, der den Text ins Fließen bringt. Dann denke ich nicht über Rhythmus, Wortwiederholungen, Zeilenlängen und Sonstiges nach, sondern lasse das Gefühl die Worte formen, die es braucht, um sich auszudrücken. Durch das Schreiben ebbt der Sturm der Emotion meistens schon ein wenig ab, und ich kann den Text zur Seite legen und mein inneres Kind trösten, meditieren, durch den Schmerz atmen, ins Therapiegespräch damit gehen ...
In der Überarbeitung schaue ich darauf, welcher Teil von mir in dem Text zum Vorschein kommt: ist es der selbstmitleidige, der anklagende, der ohne Selbstreflexion alles herausschreit? Zum Zeitpunkt des Aufschreibens musste sich dieser Anteil Gehör verschaffen. Will ich den Text jedoch veröffentlichen, gehe ich während der Überarbeitung in mich und stelle mir die Frage, ob ich schon Frieden geschlossen habe mit mir selbst, mit dem Erlebten, mit den Beteiligten. Habe ich das nicht, rutsche ich noch zu sehr in dieses Gefühl von Wut, von Verletzenwollen, von Rache hinein, ist der Text noch nicht reif − bin vielmehr ich noch nicht bereit, diese Verletzung lesbar zu machen. Denn es gehört zwar zum Prozess des Durchfühlens von inneren Wunden dazu, aber ich persönlich würde keinen Text lesen wollen, der voll Anklage und Selbstmitleid des erwachsenen Ichs strotzt und in dem keinerlei Reflexion zu einer (inneren) Entwicklung führt.
Es gibt aber auch die Art von kreativen Impulsen, durch die ich während des Aufschreibens verarbeiten und loslassen kann. Meiner Meinung nach merkt man das einem Text beim Lesen auch an.

Mit Emotionen schreiben ist nicht nur ein Mittel des Tagebuchschreibens oder der Autobiografie − auch die Fiktion profitiert von Gefühlen. Dabei benötigen wir Autor*innen die Bereitschaft, mit den Figuren durch schwierige innere Prozesse zu gehen, sowie das Durchhaltevermögen, beim Getriggertwerden durch die Geschichte mit den aufkommenden eigenen Gefühlen ebenso zurechtzukommen wie mit denen der Charaktere.
Durch Gefühle können wir in Verbindung treten zu den Figuren, auch zu den unliebsamen, auch zu kleinen Nebenfiguren. Das Selbstfühlen und das (manchmal erst daraus entstehende) Mitfühlen erweckt in uns die Fähigkeit, fiktionale Charaktere authentisch darzustellen.


Es wurde schon von einigen Schriftsteller*innen gesagt, Schmerz sei vortrefflich, um kreative Texte entstehen zu lassen. Nun, auf gewisse Weise stimme ich dem zu. Doch muss Schmerz bei Weitem nicht der einzige Auslöser für das Schreiben sein (zudem halte ich nichts von einer Romantisierung von psychischen Erkrankungen bei Künstler*innen), auch alle anderen Gefühle können Texte mit Sogwirkung entstehen lassen und die Lesenden das fühlen lassen, was wir beim Schreiben und Verarbeiten empfunden haben.




Ihr Lieben,
ich danke euch fürʼs Lesen :)
Habt ihr Erfahrungen mit einer Art des therapeutischen Schreibens? Oder mit Gefühlen und Aufarbeitung von eigenen Themen im Zusammenhang mit dem Schreiben von Fiktion? Wenn ihr euch mit mir weiter über dieses Thema austauschen wollt, freue ich mich über eure Nachricht!
Ihr könnt mir auch jederzeit gerne zu den anderen Beiträgen auf meinem Blog schreiben :)

Herzlich,
eure Melina