Orte als Figuren

19.07.2023

Ich glaube, es war bei einem Interview mit Cornelia Funke, bei dem ich einen Satz besonders aufschnappte. Als Zitat wiedergeben kann ich ihn nicht mehr, doch die Essenz war: Als Geschichtenerzähler*in sollte man Orte wie Figuren behandeln.
Bei meinen eigenen Geschichten bemerke ich, was für ein großes Potenzial darin liegt, den Orten mehr Raum zu geben und sie ihre Wirkung entfalten zu lassen.
Hier also ein paar Anregungen, was Orte für Funktionen haben können und wie wir sie nutzen können. Denn: nicht nur Kleider, sondern auch Orte machen Leute! 😉

Weiter unten gibt es noch drei kleine Analysen von Ortsbeschreibungen in Büchern.


Orte …

  • bergen Erinnerungen (meistens Orte, zu denen man zurückkehrt).
    Neue Orte können Figuren ein neues Leben, neue Chancen usw. leichter machen.
  • verändern sich. Z. B. können sie von der Natur eingenommen werden oder vom Menschen. Was bedeutet das für die Hauptfigur?
  • können von verschiedenen Figuren unterschiedlich wahrgenommen werden, wobei sich das auch verändern kann mit dem Älterwerden einer Figur.
  • können eine Wahrheit verbergen. Z. B. eine versteckte Todesstätte oder geheime Plätze ...
  • werden von Menschen, Tieren und Natur, Wetter über Jahrhunderte hinweg geprägt und erst durch sie wirklich lebendig.
  • können sich den Stimmungen von Menschen anpassen. Z. B. ein Dorf, in dem die Ernten nichts werden & parallel dazu leben dort übel gelaunte Menschen. (Wobei man da natürlich aufpassen muss, nicht in Klischees zu fallen, das Beispiel ist sogar schon grenzwertig.)
  • können etwas Mystisches an sich haben, das vielleicht von allen Figuren, vielleicht aber auch nur von wenigen wahrgenommen wird.
  • sind nicht nur geprägt, sondern prägen auch selbst: ein Ort, an dem immer raue Winde wehen, bringt vielleicht abgehärtete Personen hervor. Diese Prägung ist immer auch an die Menschen und das Milieu gebunden, die dort leben.

> Außergewöhnliche Schauplätze zu wählen für entscheidende Szenen kann die Lesenden noch mehr fesseln und bietet die Möglichkeit, eine einzigartige Atmosphäre zu schaffen.
> Orte können immer im Zusammenspiel mit Lichtverhältnissen, Wetter, Temperaturen etc. beschrieben werden, womit die Lesenden sich alles noch besser vorstellen können. Außerdem nicht vergessen, dass die Figurenperspektive immer ausschlaggebend ist für Beschreibungen, auch für die von Orten.

Ein paar Beispiele, von denen man lernen kann, gibt es im Folgenden.


"Etwas fehlte.
Es dauert eine Weile, bis Sergent Zejn merkte, was er vermisste – im Allgemeinen war es einfacher, Dinge zu finden, die da waren statt verschwunden.
Prüfend sog er die Landluft ein. Der Geruch nach Baumharz, feuchter Erde und Ziegendung wirkte fremd in seiner Nase.
Wo blieben der Unrat, den die Menschen aus den Fenstern zu kippen pflegten, der Urin an den Straßenecken, der Opiumrauch, die pestgebeutelten Bettler und parfümierten Schnösel? Aus dem Hügelgewirr der Vorlande war auch das Meer bloß eine Ahnung am Horizont, seine salzigen Winde und der vertraute Gestank pechbestrichener Schiffsplanken kaum mehr als eine Erinnerung.
Das Fehlen all jener Gerüche machte dem Sergent erneut bewusst, mit welch trügerischer Absicht man ihn nach Svonnheim versetzt hatte.
'Nett hier, nicht?', flötete der Gardist, der ihn im Dorf herumführte. 'Ruhig, idyllisch. In Svonnheim passiert recht wenig.'"

(Haderer, Katharina V.: Das Schwert der Totengöttin. Knaur 2019, S. 9.)


Das erste Kapitel in Haderers Trilogie beginnt mit dem Ort. Nicht durch eine typische Ortsbeschreibung, vielmehr tastet sich die Erzählinstanz an den Ort heran über das, was der Figur Zejn ungewohnt vorkommt – über die Gerüche, die neu sind, und die Gerüche, die fehlen. Auch das Fehlen von etwas ist wichtig für Beschreibungen, denn es vermittelt ebenso einen Eindruck von dem Ort, wie das, was da ist.
Es wird deutlich, dass Zejn mit der Stadt, aus der er kommt, zwar unliebsame Gerüche verbindet, allerdings steht der Ort Svonnheim, in dem er nun eine Weile leben muss, in Verbindung mit seiner ungerechten Versetzung, sodass die Landluft keine positive Konnotation für ihn zu sein scheint. Seine Sicht auf den Ort ist also geprägt von seiner Laune.
Er könnte dem Dorf anscheinend mehr abgewinnen, läge es näher am Meer, hier steckt schon eine Ortsvorliebe des Charakters mit drin, die gleichzeitig aussagt, dass Svonnheim genau das Gegenteil von dem Ort ist, an dem Zejn jetzt lieber wäre.
Der Ort dieser Geschichte wird aus Zejns Sicht geschildert, so wie durch seine Augen auch andere Figuren gezeigt werden. Der Ort selbst hat keine eigene Stimme, doch seine Bedeutung für die Figur Zejn ist in den wenigen Zeilen schon erkennbar – und auch für die Handlung, denn was könnte unsere Lesenden-Ohren mehr aufhorchen lassen als die Aussage, es passiere am Handlungsort angeblich nur wenig? 😉
An diesem Beispiel sieht man, wie sich Ortsbeschreibungen schon mit Charakterisierung und Andeutungen vermischen lassen – und dafür braucht es keine ellenlangen Passagen!

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"Die offizielle Bezeichnung des Ladens lautete Wm. Johnson General Merchandise Store. Den Kunden wurden ganze Stapel Nahrungsmittel geboten, eine ordentliche Auswahl farbigen Garns, Mischfutter für die Mastschweine, Mais für die Hühner, Petroleum für die Lampen, Glühbirnen für die Wohlhabenden, Schnürbänder, Haarwaschmittel, Luftballons und Blumensamen. Was nicht zu sehen war, musste lediglich verlangt werden.
Ehe wir so heimisch waren, dass der Laden zu uns und wir zu ihm gehörten, waren wir eingeschlossen in einem Tollhaus der Waren, dessen Aufseher für immer verschwunden war.
[…] Während der Erntezeit stand meine Großmutter um vier Uhr auf […]. Dann steckte sie ihre großen Füße in die selbst gemachten Latschen und überquerte den nackten ausgelaugten Holzfußboden, um die Petroleumlampe anzuzünden.
Das Licht der Lampe im Laden gab unserer Welt eine sanfte Atmosphäre der Vertrautheit, in der ich nur flüstern und auf Zehenspitzen umherlaufen mochte. Die Gerüche von Zwiebeln und Kerosin und Orangen hatten sich über Nacht vermischt und wurden nicht gestört, bis der Holzbalken mit den Körpern der Menschen hereinströmte, die meilenweit gelaufen waren, um zur Sammelstelle zu kommen.
'Schwester, ich bekomm zwei Dosen Sardinen.'
'Heut arbeit ich so schnell, dass du meinst, du stehst still.'
'Pack mir doch ein bisschen Käse und ein paar Kekse ein.'
'Gib mir nur ein paar von diesen fetten Erdnussplätzchen.'
[…] In diesen zärtlichen Morgenstunden war der Laden voll von Gelächter und Späßen, Protzerei und Prahlerei. Der eine wollte zweihundert Pfund Baumwolle pflücken, ein anderer dreihundert. Selbst die Kinder versprachen, ihren Teil nach Hause zu bringen. […] Das Geräusch der leeren Baumwollsäcke, die über den Boden geschleift wurden, und das Gemurmel der erwachenden Menschen wurde vom Klingeln der Kasse durchschnitten, wenn wir unsere Fünf-Cent-Umsätze tippten."

(Angelou, Maya: Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt. 4. Aufl. Suhrkamp 2019, S. 12–15.)


Der Ort, den die Autorin hier beschreibt, ist geprägt von den Menschen, die ihn lebendig machen. In diesem Fall ist das nicht nur die Familie, die im Laden arbeitet, sondern auch zahlreiche Kund*innen. In die Beschreibung fließen Gerüche, Lichtverhältnisse und Geräusche mit ein, was den Ort beim Lesen erfahrbar macht. Die vielen Aufzählungen der Waren vermitteln den Eindruck von prall gefüllten Regalen. Gleichzeitig ist in die Beschreibung inkludiert, wie der Ort die Menschen prägt: die Großmutter arbeitet lange, die Kinder arbeiten mit (und der Satz "Ehe wir so heimisch waren, dass der Laden zu uns und wir zu ihm gehörten" verdeutlicht noch mal explizit die Verknüpfung von Ort und Figuren), für die Kund*innen ist es ein täglicher Treffpunkt, wo sie nicht nur einkaufen, sondern auch ihre sozialen Beziehungen pflegen und zudem über ihre eigentlich harte Arbeit scherzen – vielleicht ist der Laden der einzige Ort, wo sie so unbeschwert sein können.

Diese Beschreibung zeigt, wie viele Ebenen zusammenkommen, wenn man sich ausgiebig den Orten und ihren Verbindungen zu den Figuren widmet. Außerdem natürlich, wie anschaulich die Sinne alle Arten von Beschreibungen lebendig werden lassen! 😊

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Immer wieder ist ja auch eine Schwierigkeit, wie man der Figur Bekanntes so beschreibt, dass die Lesenden nicht denken: Aha, das wird jetzt extra für mich erzählt und fällt aus der Figurenperspektive raus.
Bekannte Orte schildern, ohne dass es so wirkt, als würde die Figur sie zum ersten Mal beschreiben – die Ortsbeschreibung muss in diesem Fall verdeutlichen, dass die erzählende Figur den Ort kennt, sich ggf. täglich darin aufhält. Ein Beispiel für eine solche gelungene Beschreibung findet sich u. a. in Rothfussʼ Die Musik der Stille:

"Als sie die Augen aufschlug, sah Auri den Hauch eines schummrigen Lichtscheins. Das war eine Seltenheit, denn sie befand sich im Mantel, ihrem allerprivatesten Ort. Dann war es also ein weißer Tag. Ein tiefer Tag. Ein Findetag. Sie lächelte, und Aufregung perlte in ihrer Brust.
Es war gerade hell genug, um die blasse Form ihres Arms zu erkennen, während ihre Finger die Tropfflasche auf ihrem Bettbord fanden. Sie schraubte sie auf und ließ mit der Pipette einen Tropfen in Foxens Schälchen fallen. Es dauerte einen Moment, und dann leuchtete er in einem matten Abenddämmerungsblau auf. Vorsichtig schob Auri ihre Bettdecke beiseite, sodass sie den Fußboden nicht berührte. Sie schlüpfte aus dem Bett, der Steinboden warm unter ihren Füßen. Ihre Waschschüssel stand auf dem Tisch in der Nähe ihres Betts, und daneben lag ein Scheibchen ihrer allerliebsten Seife. Nichts von alledem hatte sich im Laufe der Nacht geändert. Das war gut.
Auri ließ mit der Pipette einen Tropfen direkt auf Foxen fallen. Sie zögerte und fügte lächelnd noch einen dritten Tropfen hinzu. Keine halben Sachen an einem Findetag. Dann hob sie ihre Bettdecke auf und faltete sie sorgsam zusammen, wobei sie sich ein Ende unters Kinn klemmte, damit die Decke nicht über den Fußboden strich.
Währenddessen wurde Foxens Licht immer heller: Erst ein winziges Flackern, ein Leuchtpünktchen, ein ferner Stern. Dann begann er zusehends zu irisieren, war nun glühwürmchenhell. Und seine Helligkeit wuchs noch weiter an, bis er vor Licht pulsierte. Schließlich ruhte er stolz in seinem Schälchen und sah aus wie ein blaugrünes, münzgroßes Kohlenstück.
Auri lächelte ihm zu, während er endgültig erwachte und ganz Mantel mit seinem reinsten, hellsten blauweißen Licht erfüllte.
Dann schaute Auri sich um. Sie sah ihr vollkommenes Bett. Genau die richtige Größe für sie. Sie sah ihren Stuhl. Ihre Zedernkiste. Ihren winzigen silbernen Becher.
Der Kamin war leer. Und auf dem Kaminsims ruhten: ihr gelbes Blatt, ihre steinerne Schatulle, ihr graues Vorratsglas mit duftendem getrocknetem Lavendel. Kein Ding war nicht es selbst. Nichts war nicht so, wie es sein sollte."

(Rothfuss, Patrick: Die Musik der Stille. J. G. Cottaʼsche Buchhandlung 2015,
S.
11–12.)


In diesem Fall passt es zur Figur Auri, dass sie alles so genau schildert, weil sie ja täglich überprüft, ob alles "so ist, wie es sein soll". Es werden Vergleiche über gewohnt und ungewohnt genutzt, um zur Beschreibung hinzuleiten ("Das war eine Seltenheit, denn sie befand sich im Mantel, ihrem allerprivatesten Ort"), Wahrnehmungen ("der Steinboden warm unter ihren Füßen"), und Lichtverhältnisse ("während er endgültig erwachte und ganz Mantel mit seinem reinsten, hellsten blauweißen Licht erfüllte"). Die Beschreibungen wirken an keiner Stelle wie Infodump, weil wie gesagt ganz aus der Figurenperspektive und ihrer einzigartigen Wahrnehmung erzählt wird. Und der Ort ist geprägt von ihren Routinen und den ihr wertvollen Gegenständen.



Sodele, das war wieder etwas länger.
Habt ihr Orten bisher Bedeutung beigemessen oder eher nicht? Ich hoffe, ihr konntet etwas Hilfreiches für euch mitnehmen!

Danke für's Lesen 😃 Wenn ihr Fragen habt, Ergänzungen, Anmerkungen, Vorschläge für Blogbeiträge, schreibt mir gerne.

Herzlich,
eure Melina