Intuitives Schreiben - Meine Herangehensweise

09.10.2022

Aller Anfang ist eine Idee. Bei jeder Art des Schreibens oder anderen kreativen Schaffensprozessen.
Liegt nicht bereits ein angefangenes Projekt auf dem Tisch, lege ich meiner Begeisterung für die Idee keine Vertröstungen auf später in den Weg und greife sofort nach Stift und Papier. Wie genau funktioniert das beim intuitiven Schreiben? Eine Idee macht ja noch kein Kapitel und schon gar kein ganzes Buch.

Die erste Idee für eine Geschichte liefert mir immer schon die Person oder eine der Personen, um die es geht. Damit ist das Wichtigste gegeben. Bisher kamen auch mit der Anfangsidee die Lebensumstände oder die jeweilige Welt mit hereingeflattert − der zweite wichtige Bestandteil. Für eine neue Idee nehme ich mir Zeit, schwimme einige Zeit in den Eindrücken, die sie mir zeigt. (Bei mir funktioniert das meistens über Bilder in meinem Kopf, die oftmals mit Gefühlen verknüpft sind.) Musik kann dieses Verbleiben in den ersten Bildern wunderbar unterstützen, wenn man denn sofort die passende zur Hand hat.

Das ist noch immer "Kopfarbeit", zählt für mich aber schon zum Schreibprozess dazu: Eindrücke sammeln, die auftauchenden Gefühle den Personen zuordnen, mithilfe von Musik die Bilder im Kopf zu erweitern suchen, eventuell weitere Eindrücke erhalten. (Selten passen Bilder der Geschichte, die nacheinander erscheinen, in dieser Reihenfolge für das Erzählen zusammen. Der erste Eindruck einer neuen Geschichte muss nicht einmal der Anfang sein. Ich hatte meistens zuerst Ideen für einen Teil der Geschichte, der in der Mitte oder am Ende stattfand.)

Also, den Bildern im Kopf folgen − und wie funktioniert das dann, wenn es endlich zum Schreiben auf intuitive Weise kommt?

Treiben lassen.
Von der Geschichte und den Charakteren und den Orten. Intuitives Schreiben heißt für mich, dass ich keine Handlungen schreibe, wie ich sie ausführen würde, meinen Figuren keine Gedanken einschreibe, wie ich sie denken würde, sondern dass ich auf die Geschichte höre. Am wichtigsten ist mir ihr Ton, der sich in den meisten Fällen bei der ersten Szene, die ich aufschreibe, herauskristallisiert, der Ton der Geschichte, die Stimme der Hauptfigur. Ein enorm wichtiger Bestandteil, um eine Geschichte authentisch wirken zu lassen und sie zu etwas Besonderem zu machen! Um hier keine Missverständnisse entstehen zu lassen: Die Stimme der Hauptfigur plane ich nicht, ich schreibe das, was ich höre, was mir die Figur vorgibt. So funktioniert das intuitive Schreiben für mich: Ich höre zu, ich beobachte, ich fühle, was mir gezeigt wird, und schreibe das genau so auf. Meine spirituelle Seite versteht das als die Magie der befristeten Beziehung zu fiktiven Charakteren, bestimmt gibt es dazu auch wissenschaftliche Erklärungen über das Unterbewusstsein und kreative Inspiration. 😉

Das klingt bisher noch recht einfach und geradlinig, die intuitive Herangehensweise kann aber auch trügerisch sein: Manchmal führt man sich selbst auf Irrwege − ich habe schon mal die falsche Hauptperson für eine Geschichte gewählt und erst nach dreizehn Kapiteln, als eine Nebenfigur auftauchte, wusste ich plötzlich, dass diese Figur sich wie die Hauptfigur anfühlt und dass sie noch mehr zu erzählen hat, dass ich als Schreibende diese Figur besser aufs Papier bringen kann als die zuvor gewählte. Trügerisch dabei kann das erste Bild bzw. die erste Idee für die Geschichte sein, vielleicht beinhaltet diese nämlich eine Figur, die man automatisch als Hauptfigur deklariert. Wenn man sofort losschreibt, um die Idee festzuhalten oder das Bild in eine Szene der Geschichte zu verwandeln, sollte man daher im Hinterkopf behalten, dass man vielleicht gerade einer Nebenfigur folgt.
Zu beschreiben, wie sich die Hauptfigur anfühlt, wenn man sie gefunden hat, ist schwierig. Sie fühlt sich echt an, aber das sollten Nebenfiguren auch. Vielleicht ist es am treffendsten, wenn ich sage, dass die Hauptfigur einen anderen Draht zu mir als Schreibende hat als die Nebenfiguren. Sie öffnet sich mir etwas mehr, weil sie mir ja ihre Geschichte erzählen will. Zusammen mit der Hauptfigur flattern Fetzen von ihrer Vergangenheit herein, seelische Verletzungen, an denen sie zu knabbern hat, Glaubensmuster, die sie prägen. Nicht alles davon lässt sie mich sofort erfassen, es ist bei jeder Figur mit jeder geschriebenen Szene ein Herantasten an den Menschen, der sie wirklich ist. Je nachdem, wie nah die Hauptfigur mich an sie heranlässt, sehe ich Bilder aus ihrer Geschichte durch ihre Augen und in der Totale, was ich schreibend umsetzen kann mit der Ich-Perspektive oder der Er/Sie/They-Perspektive. Manchmal lassen Hauptfiguren mich nicht durch ihre Augen sehen, sondern sie nur von außen betrachten, dann bietet sich für das Schreiben z. B. am besten die Er/Sie/They-Perspektive an oder auktorial, neutral.

Nicht alle Schreibenden sehen ihre Geschichten in Bildern oder Bewegtbildern vor sich. Hilfreich ist diese Verbindung zur Geschichte schon, aber es gibt ja auch noch die anderen Sinne. Wenn meine Figur mir Gefühle zeigt, wenn sie mich riechen lässt, was sie riecht, mich hören lässt, was sie hört, schmecken lässt, wie sie es tut, vermittelt das auch einen bildlichen Eindruck. Ich höre auch öfter die speziellen Betonungen der Gespräche zwischen Figuren, stockende Stimmen, laut oder leise Gesagtes, Ungesagtes ...
Das ist jetzt natürlich nicht speziell nur beim intuitiven Schreiben so, so geht es auch Plotter*innen.
Diese Wahrnehmungsmöglichkeiten der Geschichte, die wir unbedingt zu Papier bringen wollen, haben jedoch einen positiven Einfluss auf das intuitive Schreiben: Wir wissen nicht, wohin die Geschichte geht, wir wissen noch nicht einmal, ob die erste Szene, welche wir aufschreiben, die erste Szene der Geschichte ist. Von der Figur, die wir zuerst kennenlernen, wissen wir kaum etwas, was über ihre erste Szene hinausgeht. Wenn wir die Szenen also wahrnehmen mit allem, was sie zu bieten haben, von Dialogen und Gedanken über Figurenhandlung, Gefühle, bis zu der sinnlichen Wahrnehmung der Umgebung, der Lebensart, der Welt − dann können wir diesen von der Figur gelegten Spuren intuitiv folgen, um weiter in die Geschichte vorzudringen. Wie gesagt, dabei können wir auf Irrwege geraten, wenn wir woanders hinwollen, als es die Geschichte will😉. Aber auch solche Abstecher haben ein Gutes, denn sie lehren uns, noch intensiver auf unsere Figuren zu hören.

Was dem intuitiven Schreiben hilft, sind Schreibübungen. Wenn man vor einem großen Projekt oder zwischendurch immer mal Schreibübungen macht (z. B. zu Show don't Tell; perspektivischem Schreiben aka. in der Figur bleiben und sich an die gewählte Perspektive halten, ohne aus dieser herauszufallen; Dialoge schreiben; Beschreibungen üben etc.), dann fällt das Schreiben bei einem intuitiven Abtauchen in die Geschichte leichter. Dann muss man sich "nur noch" auf die Geschichte konzentrieren und nicht zusätzlich darauf, wie man am besten eindrücklich schreibt.

Als Beispiel zum intuitiven Schreiben kann ich ein bisschen was zu zwei meiner aktuellen Projekte sagen:
Bei der Fantasygeschichte kam mir die Anfangsidee in ganz vielen bildlichen Eindrücken von der Fantasywelt. Und beim Schreiben der ersten Szene hat sich herausgestellt, dass die Erzählerin jugendlich erzählt, was ich bei den ersten Eindrücken noch nicht wusste. An diesem Beispiel erkennt man auch den Unterschied zwischen der ersten Idee und dem ersten Aufschreiben: da kann es noch mal neue Erkenntnisse zur Geschichte geben!
Mein anderes aktuelles Schreibprojekt ist ein Gegenwartsroman, der sich mir noch nicht ganz erschlossen hat. Ich lerne mit jeder Schreibsession mehr über die Figur, ihre Hintergründe und in welche Richtung die Geschichte gehen wird. Die Anfangsidee war hier eine Szene, die sich mir zuallererst über die Erzählstimme der Hauptfigur und ihre spezielle Wahrnehmungs- und Denkweise offenbart hat.

Zusammengefasst könnte man also sagen, dass das intuitive Schreiben für mich übersetzt heißt: der Geschichte lauschen, ihr folgen, schreibend die Protagonist*innen, ihre Erzählstimmen und die Welt erkunden. Intuitiv schreiben bedeutet für mich, schreiben, ohne zu wissen, wohin mich die Geschichte führt, ohne zu wissen, welche Figuren am Ende noch leben, ohne zu wissen, ob die Geschichte nur ein Buch oder mehrere füllen wird. Und es heißt auch: Ich schreibe Szenen, die am Ende vielleicht gar nicht im Buch landen, denn bei der Überarbeitung schaue ich dann auf Spannungsbogen, Entwicklung etc. und kürze oder füge hinzu, meine Überarbeitung findet weitaus "geplanter" statt.

Ja, irgendwie ist das ein beängstigender Prozess. Die Unsicherheit beim Schreiben lässt mich oftmals stocken und längere Pausen einlegen. Für mich persönlich kommt jedoch keine andere Schreibweise infrage. Eine Geschichte zu plotten, habe ich bereits mehrmals versucht und bin jedes Mal kläglich gescheitert. Ich habe geschrieben, verworfen, neu geplottet, den Plot-Plan verworfen, neu geschrieben, umgeschrieben, neu geplottet ... keine der Schreibweisen hat sich richtig angefühlt. Ich habe dabei kein einziges Mal auf meine Figuren gehört, ich hatte die ganze Zeit nur den Anspruch, dass meine Geschichte so gut werden muss wie andere ähnliche Bücher auf dem Markt, dass meine Geschichte ähnlich verlaufen sollte wie andere bekannte Bücher, dass der Handlungsverlauf sich orientieren sollte an dem, was es bisher gibt. Außerdem ist bei mir der Fall eingetreten, der vielleicht kurios klingt für alle Plotter*innen, doch es gibt Schreibende, denen es tatsächlich so geht: Hatte ich einen Plot-Plan erstellt und wollte damit loslegen, den Plan Kapitel für Kapitel umzusetzen, war meine Motivation und meine Neugier auf die Geschichte wie weggeblasen. Sprich: wenn ich die Geschichte schon kenne, bin ich gelangweilt und habe keine Lust mehr, sie noch mal aufzuschreiben! Deshalb gehört zum intuitiven Schreiben auch die Freiheit, Szenen zu schreiben, wie sie kommen. Erzählt meine Figur das Ende zuerst, schreibe ich das eben zuerst. Wenn sie irgendwo zur Mitte der Geschichte springt, folge ich ihr, und schreibe diese Szene (wobei übrigens auch die faszinierendsten Erkenntnisse über die Geschichte entstehen können, manchmal versteht man etwas rückwärts besser als vorwärts.) Danach erzählt mir die Figur drei Szenen vom Anfang und ich verstehe auf einmal die Zusammenhänge ihrer Entwicklung. Das lässt einerseits meine Neugier und Motivation nicht einschlafen und andererseits ist es doch egal, in welcher Reihenfolge man schreibt: Im Buch wird die Geschichte ja chronologisch erzählt. 😉 (Sofern das dem Stil der Geschichte entspricht, versteht sich − es gibt ja auch Geschichten, die absichtlich nicht chronologisch erzählt werden.)

Intuitives Schreiben bedeutet ganz viel Freiheit − und es erfordert ganz viel Vertrauen, in die Figuren und in die eigenen Fähigkeiten des Zuhörens und Geduldigseins.
Mit dem intuitiven Schreiben komme ich weg von Vergleichen zu anderen Geschichten, von meinen Erwartungen an den Erfolg des Buches, von meinen Vorstellungen, wie es sein sollte. Ich vertraue darauf, dass die Geschichte sich mir im Laufe des Schreibens offenbart. Und ich bin grenzenlos neugierig auf die Geschichte und die Figuren, die ich noch nicht kenne, aber aufschreiben darf! Die Schreibreise ist für mich ebenso spannend und aufregend wie die Entwicklungsreise meiner Charaktere.
Und mein Wissen über Storytelling, mit dem ich auch eure Manuskripte lektoriere, lasse ich in die Überarbeitung meiner eigenen Geschichte einfließen. (Natürlich werden auch meine Geschichten ein Lektorat von einer Dienstleisterin erhalten, die eigene Geschichte lektorieren und korrigieren funktioniert einfach nicht.)

So, wie das Plotten nicht jedermanns Sache ist, ist es auch das intuitive Schreiben nicht − in diese beiden Verfahren und in alles dazwischen kann sich jedoch jede*r einreihen, wie es zu ihm*ihr am besten passt. 😊 Auf jeden Fall sollte das Schreiben nie langweilig werden und immer der Geschichte dienen.



Wie schreibst du deine Geschichte(n)? Ähnlich, wie ich es hier geschildert habe, oder ganz anders? Bist du Pantser*in oder Plotter*in oder etwas dazwischen? 😉
Lass uns gerne darüber austauschen; sich über Schreibprozesse zu unterhalten und dabei vielleicht die eine oder andere Inspiration zu bekommen, ist immer faszinierend!
Wenn sich beim Lesen dieses Beitrags weitere Fragen zum intuitiven Schreiben ergeben haben, sammle ich diese gerne und verfasse einen zweiten Blogbeitrag zu dem Thema! Meldet euch dafür gerne per E-Mail bei mir weltenzeilen@posteo.de oder auf Instagram: @weltenzeilen


Herzlich,
eure Melina