Die Angst vor dem Schreiben

21.05.2023

Versucht habe ich es schon unzählige Male, das Leben bietet dazu nun auch wirklich genug Gelegenheiten, wenn nicht sogar Zwänge.
Ist denn jeder Versuch gescheitert?
Nein. Aber viele, und viele sind so verlaufen, dass ich noch tagelang in Gedanken wiederholt habe, was gesagt wurde, wie es betont wurde, welche Mimik dazu gemacht wurde, welche Gesten ich beobachtet habe.
Ja, darum geht es: um das Miteinanderreden, das Sprechen.
Schon seit Jahren schicke ich Unterhaltungen kleine Warnungen vorweg, wie: Ich bin nicht so die große Rednerin. Oder: Ich höre gerne zu. Und die wenigstens scheint das zu erstaunen oder zu stören. Bis sie in unserem Gespräch erleben, wie verquer ich formuliere, Grammatik ade, wie lange ich brauche, um zu antworten, wie ich kaum Blickkontakt halten kann. Und am auffälligsten: wie wenig ich insgesamt sage.
Es muss für Gesprächspartner*innen verwirrend sein, wenn ich nur mit "ja" oder "stimmt" antworte oder wenn ich minutenlang schweige und nichts Neues in unsere Unterhaltung einbringe. Wie muss ich auf andere wirken? "Sie geht nicht auf mich ein, sie interessiert dieses Gespräch gar nicht, sie ist ignorant, die Gesprächspausen sind unangenehm …" So stelle ich mir ihre Meinung zumindest vor.
Viele wissen, dass ich schreibe, und erwarten wie selbstverständlich, dass ich darüber und über alles andere genauso souverän sprechen kann. Kann ich aber nicht.
Die Wahrheit ist: telefonieren, Videoanrufe, Live-Gespräche – das alles trocknet meinen Hals aus und fegt mein Gehirn leer.
Lange sprechen? Fehlanzeige, da versagt meine Stimme in null Komma nichts.
Das Gespräch immer weiterführen, neue Themen einbringen, genügend auf die Gesprächspartner*innen eingehen? Pustekuchen, ich kann nicht denken und sprechen gleichzeitig, ich brauche viel zu lange, um Gesagtes zu verarbeiten. Und wenn jemand Trost braucht, Zuspruch, Ermutigung, dann kommen mir nur plumpe Worte über die Lippen, wenn überhaupt welche. Obwohl ich gerne etwas sagen würde, das wie eine Umarmung wirkt, wie gemeinsames Lachen.
So scheitere ich tagtäglich am gesprochenen Wort.

Und so lange war ich überzeugt, auch beim Schreiben eine Versagerin zu sein.
Über mich selbst konnte ich jahrelang gar nicht schreiben, es tat zu weh. Tagebücher fing ich an und hörte schnell wieder auf damit, Ereignisse und Gedanken oder sogar Gefühle von mir aufzuschreiben. Ich schämte mich für mich selbst für zu viele Dinge, weil ich die Zusammenhänge von Verletzungen, Reaktionen darauf und entwickelten Schutzmechanismen noch nicht kannte.
Aber ich lebte gedanklich doch in Geschichten, spann Fortsetzungen von Büchern und Filmen, die ich mochte, ließ meiner Fantasie freien Lauf – wie konnte es da sein, dass ich auch Geschichten, die nicht von mir handelten, einfach nicht aufgeschrieben bekam? Manchmal habe ich das heute noch: da schwelge ich in den Gedankenbildern einer Geschichte oder Idee
den Stift in die Hand zu nehmen, um das endlich aufzuschreiben, schiebe ich jedoch vor mir her. Warum?
Weil ich eine Angst vor dem Schreiben habe, die mich denken lässt: Ach, du brauchst das Schreiben nicht, deine Geschichten braucht niemand, lass es einfach.
Das ist die Angst vor meinem Ausdruck und davor, diesen Ausdruck zu veröffentlichen und damit zur Bewertung freizugeben. Ich weiß, wo diese Angst ihren Ursprung hat. Es hat mich Jahre gekostet, das zu erkennen und daran zu arbeiten, und ich bin immer noch dran, meine Wunden zu heilen. Meinen Blog zu starten war der erste sichtbare Schritt, mit dem ich einen Teil meines Ausdrucks befreit habe.
Noch ist die Angst aber nicht ganz verschwunden. Mit dem Sprechen hadere ich jeden Tag und bin noch keinen Schritt weitergekommen. Mit dem Schreiben bin ich an einem Punkt angelangt, an dem ich über mich selbst schreiben kann und sogar Menschen an diesem Schreiben teilhaben lasse, ohne jede Minute das Bedürfnis zu haben, meinen Blog zu löschen.
Es sind kleine Schritte, die ich gehe, um mich wahrhaft ausdrücken zu können. Doch ich gehe weiter, das ist, was zählt. Und mittlerweile ist das Schreiben für mich ein Helfer geworden für Klarheit und für die Erkenntnis: Ich habe etwas zu sagen und ich darf darüber schreiben, und Menschen können meine Texte lesen, und Austausch kann stattfinden über ähnliche Erfahrungen, Schwierigkeiten und Ermutigungen, und so viel Verständnis kommt mir entgegen.

Nun hat mich dieser Text vom Sprechen zum Schreiben und zu etwas Wunderschönem auf meiner Reise gebracht: Danke euch, liebe Lesende, danke für eure lieben Nachrichten und den wertschätzenden Austausch!
Ich gehe in meinem Tempo weiter und schreibe weiter, und vielleicht wird diese Form der existenziellen Angst irgendwann nur noch eine von vielen Geschichten sein, die ich zu erzählen habe.


Herzlich,
eure Melina



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